Wie die richtigen Worte finden, nach einem Jahr und vier Monaten Knast? Wie diese Mauer niederreißen, die die Außenwelt von der des Gefängnisses trennt? Im Knast habe ich mich aufgelöst, habe nicht mehr an mich gedacht. Ich habe mich geleert, um nicht zu leiden. Ich habe mich auch von meinen Erinnerungen abgekapselt, von dem, was Draußen passiert, um mich auf dieses neue Leben zu konzentrieren, das Leben mit den anderen Gefangenen. Dies war einer der Gründe, warum ich nur wenig Kraft hatte, um auf die vielen Briefe zu antworten, die ich bekommen habe. Heute stelle ich fest, dass ich nicht mehr viel fühle, dass ich keine Leidenschaft mehr habe (außer dem Schnee). Es herrscht Leere. Mein Geist ist woanders. Mir wohnt eine neue Auffassung der Zeit inne, ich erlebe Augenblicke des Betrachtens, der Stille, der Abwesenheit.
Der Prozess wurde immer weiter geschoben. Nun sollte er Ende April zum Abschluss kommen. Die Freilassung am 18. Dezember kam völlig unerwartet. Wenige Wochen zuvor hatte die Staatsanwaltschaft noch angekündigt gegen eine eventuelle Entscheidung des Gerichts zugunsten einer Freilassung vorzugehen. Ich erwartete allerhöchstens zwei Stunden auf freiem Fuß, bevor ich wieder eingesperrt würde, so wie es zwei anderen Angeklagten erging, die nach der Entlassung aufgrund des staatsanwaltschaftlichen Widerspruchs erneut in den Knast mussten. Ich hatte mich schon darauf vorbereitet zu sagen, ich wolle in der Zelle bleiben bis eine entgültige Entscheidung gefällt würde. Denn für zwei Stunden rauszukommen würde darüber hinaus, dass es einem das Gehirn zerdeppert, zusätzlich bedeuten, erneut ins Gebäude A zurückzukehren.
DAS GEBÄUDE A
Dieses Gebäude ist das, wo angekommen wird. Hier ist Mensch 23 von 24 Stunden auf Zelle. Es ist ein dunkler Ort, wo die Gefangenen durchdrehen, schreien und gegen die Wände schlagen. Ich war vier Monate dort. Während des ersten Monats nach meiner Ausweisung hatte ich nur die Kleidung die ich bei meiner Ankunft trug. Es war unmöglich an meine Klamotten zu kommen, obwohl diese schon längst da waren. In diesem Gebäude gibt es eine Gruppendusche, die zwei mal pro Woche genutzt werden darf – Morgens früh um 6:45 Uhr. Dort wusch ich meine Unterhose, die ich dann auf der Heizung in der Zelle trocknete, zu der ich mit meinen Restklamotten gekleidet gelangte. In diesem Gebäude wird man von den Wächtern bei der Essensausgabe angebrüllt, wenn die unsichtbare Linie entlang der Zelle in Richtung Gang überschritten wird. Der einzige Moment zum Atmen jenseits dieser 2×4 Meter Zellen war der einstündige Hofgang. Im Gebäude befinden sich vor allem Ausländer, deren Straftat darin besteht keine Papiere zu haben, des Dealens kleiner Mengen Drogen oder des Diebstahls beschuldigt zu sein. Ich habe Gefängniswärter gesehen, die ausländische Inhaftierte schlugen, die es versuchten auf dem Rückweg vom Hofgang ein Buch aus der Nachbarzelle mitzunehmen. Ich habe hasserfüllte Blicke der Wärter gesehen, die sich gegen rassifizierte Inhaftierte richteten. Die meisten Ausländer die ich auf dem Hof des Gebäudes A traf, definierten die Gefängniswärter als Nazis. Es ist unheimlich das heute zu hören, angesichts dessen, dass vor einem Jahrhundert hunderte Inhaftierte genau hier von Nazis ermordet wurden.
DER ELBCHAUSSEE-PROZESS ODER DIE UNWAHRSCHEINLICHE KOMPLIZENSCHAFT
Der Prozess ist besonders. 99 % der vorgeworfenen Taten haben nichts mit den Beschuldigten zu tun. Die Anschuldigung dreht sich um über eine Million Euro Sachschaden. Die Staatsanwaltschaft versucht eine sehr weite Auffassung von Komplizenschaft durchzusetzen, die noch weit über die vermeintliche Anwesenheit der Beschuldigten hinaus geht. Stellt es euch konkret vor: Ihr seid auf einer Demo und 50 Meter von dort verbrennt jemand ein Auto – und ihr werdet für den Sachschaden verantwortlich gemacht. Doch das ist noch gar nichts! Stellt euch vor, ihr hättet die Demonstration verlassen und zehn Minuten später wird ein Molotow-Cocktail geworfen: Obwohl ihr nicht mehr anwesend seid, werdet ihr dafür verantwortlich gemacht.
Es gibt viele Probleme in diesem Verfahren, im Knast, bei der Polizei, im Kapitalismus, im Staat und seiner Welt. Diese verschiedenen Themen haben unter anderem folgende Widerlichkeiten gemeinsam: Den Durst nach Verwaltung, die Globalisierung, die Klassifizierung. Eure Persönlichkeit, eure Identität, Kreativität, Einzigartigkeit – alles muss in eine Schublade passen.
«Die Einzigartigkeit des Charakters eines Menschen manifestiert sich in jedem Zug seines Gesichtes und in jeder seiner Handlungen. Einen Menschen mit einem anderen zu verwechseln und zu Pauschalisieren ist ein Zeichen von Dummheit. Stumpfe Geister halten nur Rassen, Nationen oder Klans auseinander, der Weise die Individuen.»
Thoreau, Tagebuch – Juli 1848 (169 jahre vor demG20 Gipfel in Hamburg)
Im November vergangenen Jahres, rund ein Jahr nach Prozessbeginn, schlug ich vor, eine Erklärung abzugeben, unter der Bedigung, dass sie öffentlich zugelassen würde. Die Richterin hatte erst verkündet, dies sei möglich, änderte dann jedoch ihre Meinung, weil es gesetzlich nicht möglich sei, die Öffentlichkeit für eine bestimmte kurse Zeit auszuschlieBen. So kommt es, dass von mir noch keine Deklaration kam, trotz der knapp fünfzig Verhandlungstage. Die letzten Verhandlungstage zum Ende des Prozesses müssen öffentlich sein.
Seitdem ich am 18. Dezember aus der Haft entlassen wurde, sagen mir die Menschen, die ich treffe, es sei ein schönes Weihnachtsgeschenk. Das Bekümmernde dabei ist, dass dieses Geschenk ein Jahr Verspätung hat: Ich habe schon eine Weihnacht im Gefängnis verbracht.
GRÜNDE UND BEDINGUNGEN MEINER FREILASSUNG
Immerhin hat das Gericht letztlich meiner Freilassung zugestimmt. In seiner Begründung erklärt es, dass ein Fluchtgrund aus mehreren Gründen nicht mehr gegeben sei. Allen voran würde eine erneute Flucht einen neuen europäischen Haftbefehl bedeuten und dann würde die ganze Prozedur von Vorne beginnen. Zudem habe sich, seitdem eine Freilassung im Juni abgelehnt wurde, die zu erwartende Strafe proportional zur bereits verbüßten Strafe in einem Ausmaß verschoben, dass der Fluchtanreiz geringer sei. Das Gericht meint ebenfalls, dass ich die Freiheit, Kontakt zu meiner Familie zu haben, ebenfalls nicht durch eine erneute Flucht auf’s Spiel setzen wollen würde. Hierfür wird die Kontrolle meiner privaten Briefpost angeführt. Dennoch empfindet das Gericht meine Kooperation mit dem Staat als mangelhaft. Es wurde eine Einlassung im Rahmen des nichtöffentlichen Verfahrens erwartet, was ich bis jetzt abgelehnt habe. Da ich dennoch verkündet habe, eine öffentliche Erklärung am Ende des Prozesses abzugeben, erwartet das Gericht, dass ich nicht flüchten werde, da ich das Wort ergreifen will. Grundsätzlich beschreibt mich der Beschluss des Gerichtes als einen „jungen, höflichen und freundlichen Mann“, was scheinbar das Vertrauen in mich steigert.
Nun erlebe ich also seit dem 18. Dezember eine bedingte Freiheit. Bis zum Ende des Verfahrens muss ich die folgenden Bedingungen erfüllen:
Eine Meldeadresse in Hamburg haben.
Mich Montag und Donnerstag bei der Hamburger Polizei melden.
Als Baumpfleger arbeiten.
Meine Papiere und meinen Pass beim Gericht hinterlegen .
Gerichtlichen Ladungen nachkommen.
Keine Straftaten Begehen.
BEDINGTE GEDANKENFREIHEIT
Nun bin ich also Draußen und frei mich auszudrücken. Doch diese Freiheit ist auch theoretisch und an Bedinungen geknüpft. Es fehlt weder an Lust noch an Dingen, die gesagt werden müssten, doch angesichts dessen, was das Gericht von mir erwartet, ist es eine Illusion zu denken, ich könne
mich frei ausdrücken. Auch in diesem Bereich bleibt meine wiedererlangte Freiheit sehr relativ.
Dennoch hat sich mein Blick auf die Welt nicht geändert. Auch wenn ich seit 16 Monaten abgekapselt bin, ist es besonders schockierend, sich über die massive Repression gegen Demonstrationen in Frankreich (Gelbwesten und andere) zu informieren. Es gibt rund tausend Verurteilungen zu Haftstrafen. Ich habe von Strafen von bis zu fünf Jahren Haft gehört und vor kurzem von dreieinhalb Jahren geschlossener Haft gegen einen Menschen aus Nancy. Gleichzeitig bekommt ein Polizist zwei Monate auf Bewährung, weil er schutzlose Leute mit einem Pflasterstein beworfen hat. Er wird weiterhin aktiv sein: Kein Eintrag im Vorstrafenregister. Wenn ihr einen Pflasterstein auf Leute mit Helmen und Schilden werft, bekommt ihr mehrere Jahre Knast. Ist das Justiz? Das Gefängnis ist ein Wahnsinn. Vorurteile sind ein Wahnsinn, der zu Leid und Gleichgültigkeit führt.
Vergewaltiger und Mörder repräsentieren nicht einmal 5% der Gefängnisbevölkerung. Die Armen sind es, die sich hinter den Gittern wiederfinden. Ich habe im Gefängnis keine Vertreter der Bourgeoisie und keine Banker gesehen – und Polizisten auch nicht. Dennoch geht die primäre Gewalt und die vorwiegende Kriminalität in der Gesellschaftspyramide von oben aus. Die Personen, die in den Knast geworfen werden, werden es fast gänzlich aufgrund des Drucks der oberen Klassen, der Ausbeutung, die Reiche an den Armen üben, und der sozialen Ungleichheit wegen. Ich habe keine Reichen im Knast getroffen, nur Arme. Es ist Zeit anzunehmen, dass die Wahl in dieser Situation fast ohne Einfluss ist. Die Situation der Armut ist kriminell.
Acht Menschen besitzen soviel wie die Hälfte der Weltbevölkerung!
AN DIEJENIGEN DIE KÄMPFEN
Nachdem ich die Gefängniswelt erlebt habe, fühle ich mich solidarisch mit denen verbunden, die eingeschlossen sind. Daher wünsche ich :
Solidarität und Kraft all denjenigen, die in Frankreich infolge der Demonstration der Gelbwesten und im Rahmen der Proteste gegen Macron’s Rentenreform & seine neoliberale Privatisierungswelt eingeknastet wurden.
Solidarität und Kraft den Aufständischen in Chile, die unter der gleichen neoliberalen & Privatisierungs-Politik leiden.
Solidarität und Kraft dem autonomen Viertel von Exarcheia in Griechenland.
Solidarität und Kraft den gefolterten Anarchisten in Russland.
Solidarität und Kraft den gefolterten Gefangenen auf Guantanamo.
Solidarität und Kraft den Aufständischen in Hong Kong, auf dass immer mehr schwarze Fahnen über den Demonstartionszügen wehen und die amerikanischen Fahnen ersetzen.
Solidarität und Kraft den Anarchisten und Atomkraftgegnern in den USA , in Frankreich, in Deutschland & überall auf der Welt.
Solidarität und Kraft für Rojava, auf dass die konkrete Geschichte von Emanzipation, Autonomie, Ökologie & Feminismus andauere.
Solidarität und Kraft für Afrika, die große Vergessene , noch immer und stetig geplündert für den Wohlstand der Länder des Nordens.
Auf das jede*r Gefangene sich zu ihrer*seiner Zeit im Knast ausdrücken mag, damit wir schnellstmöglich diese grauenhaften Mauern durchbrechen, die soviel Leid säen. Diese Mauern, die wir nur akzeptieren, weil wir diejenigen, die dahinter sitzen, nicht in die Augen schauen können.
Loïc,
Zu einem endlosen Prozess nach Hamburg ausgeliefert