Am 06.11.2019 haben die Rechtsanwält*innen und die Staatsanwaltschaft ein „Rechtsgespräch“ mit der Kammer geführt. Tatsächlich war es eher ein Monolog des Gerichts, weil die Vorsitzende die Sichtweise der Kammer mitgeteilt hat (Transparenz!) und die Angeklagten wissen lassen wollte, wo sie / wir / das Gericht (vorläufig, total ergebnisoffen ;-)) stehen. Es steht noch eine Stellungnahme der
Staatsanwaltschaft dazu aus, auch die Anwält*innen haben noch keine Stellung genommen.
Die Kammer geht derzeit offenbar von folgendem Sachverhalt aus:
Es gab am 07.07. einen Aufmarsch von ca. 200 Personen, die um 07.30 ab Donners Park gestartet sind. Man habe sich vorher Donners Park / Heinepark eingefunden in Kleingruppen, wobei die Teilnehmer unterschiedlich motiviert gewesen seien. Alle Angeklagten seien dabei gewesen, Einen früheren Aufmarsch – beispielsweise eine früher losgegangene „friedliche“ Demo habe man bisher nicht feststellen können. Die Kammer gehe nicht davon aus, dass man auf den Aufmarsch das Demonstrationsstrafrecht anwenden könne, weil alle Teilnehmer dunkel gekleidet und vermummt gewesen seien. Die Kleingruppen seien jeweils mit zu differenzierenden Merkmalen versehen (Handschuhe, Hämmer und Werkzeuge, Pyrotechnik pp.). Es hätten ab 07.30 Uhr sofort die ersten Sachbeschädigungen stattgefunden, wobei alle Teilnehmer mit Gewalttätigkeiten jedenfalls gegen Sachen und öffentliche Einrichtungen (Bushaltestellen pp.) gerechnet hätten.
Nicht alle hätten sie gewollt, aber zumindest billigend in Kauf genommen. Es lägen keinerlei Anhaltspunkte für eine übergeordnete „Gesamtplanung“ vor. Die Kleingruppen hätten ggf. schon (intern) geplant, aber es gebe nichts für eine alle Teilnehmer umfassende („paramilitärische“) Planung oder Absprache. Man gehe außerdem – gestützt durch LKA7-Lageanalyse und [echtem] Sachverständigem – davon aus, dass die meisten Teilnehmer mit einem (baldigen) Einschreiten der Polizei gerechnet hätten. Insofern seien auch Gewalttätigkeiten in Kauf genommen worden; dies gelte auch für die Mollis mitführenden Teilnehmer; dass insofern ein Konsens betreffend deren Einsatz gegen IKEA geherrscht habe, halte man für fernliegend.
Man gehe hinsichtlich der Angeklagten von einer Inkaufnahme (FfM /Offenbach) bzw. einem Wollen (Frankreich) von Gewalt gegen Sachen aus. Man gehe aber auch davon aus, dass eine Gewalt gegen Privatsachen oder Privatpersonen nicht vom Vorsatz umfasst gewesen sei.
Man gehe davon aus, dass der Angeklagte Loic Schneider einen Böller geworfen habe; man gehe außerdem davon aus, dass einer der weiteren Angeklagten eine Mülltonne hinter sich hergezogen und diese auf die Straße gelegt habe, was alle anderen Angeklagten mitbekommen hätten. „Die deutschen Angeklagten“ hätten sich dann Platz der Republik „ausgeklinkt“. Der Angeklagte Schneider sei am Paul-Nevermann-Platz ausgestiegen und habe sich entmummt. Man könne nicht sagen, warum die Personen gegangen seien, die Einlassung der Angeklagten – soweit sie erfolgt seien – seien insofern nicht zu widerlegen. Es seien insgesamt erhebliche Schäden an Geschäftsgebäuden und Büros entstanden. Es seien auch weitere erhebliche Sachschäden entstanden. Man gehe davon aus, dass der Busfahrer, die Frau vor dem Konsulat, der Bundespolizeibeamte im Auto am BHF Altona und ein HASPA-Mitarbeiter körperverletzt worden seien. Bei den anderen Zeugen würden die „Schockschäden“ nicht gravierend genug sein, um als Körperverletzung im Sinne des StGB zu gelten. Man könne im Übrigen nicht feststellen, wie viele Mollis insgesamt mitgeführt worden seien, weil man zwar Flaschen, nicht aber deren Füllstand und Füllart sehe auf den Videos. Letztlich gehe es damit um 4 oder 5, die auf IKEA geworfen worden seien.
Rechtlich stelle sich das Ganze dann wie folgt dar:
- Das Demonstrationsrecht sei nicht anwendbar.
- Die Angeklagten hätten (objektiv) wenigstens während ihrer körperlichen Anwesenheit den anderen Teilnehmern Sicherheit vermittelt. Sie hätten Sachbeschädigungen, Brandlegungen und Körperverletzungen gefördert. Man meine, dass durch den gemeinsamen Start, die Vermummung und Bekleidung, das Mitgehen in gleicher Geschwindigkeit wie das Banner den anderen diese Sicherheit vermittelt worden sei. Sie hätten dadurch die zur Schau gestellte Militanz verstärkt und vermittelt, mit der Straftatbegehung einverstanden zu sein.
- Es stelle sich dann (subjektiv) die Frage, ob die Straftatbegehungen (Bsp.: Mollis, Körperverletzungen) auch gewollt gewesen seien. Weil am Start nach Überzeugung der Kammer die Angeklagten nicht damit gerechnet hätten, komme es auf die jeweilige Kenntnisnahme an. Die lasse sich für die Mollis ausschließen, weil die einzigen feststellbar geworfenen erst nach Abwesenheit der Angeklagten geworfen worden seien. Hinsichtlich der Körperverletzungen an Busfahrer und Frau vor der Botschaft / dem Konsulat gehe die Kammer davon aus, dass die Angeklagten diese ebenfalls nicht mitbekommen hätten. Hinsichtlich der hinter den eingeworfenen Scheiben befindlichen Personen gehe die Kammer davon aus, dass man damit nicht rechnen musste, dass dort schon Personen anwesend seien wegen der frühen Stunde. Jedenfalls habe man das berechtigt hoffen dürfen („bewusste Fahrlässigkeit“). Uneinig sei die Kammer sich bei der Frage, wie es mit dem Vorsatz betreffend die Körperverletzung des im Moment des Bewurfs im Dienstfahrzeug befindlichen Bundespolizisten sei. Hier stellten sich gleich mehrere Fragen:
- Wurde durch das Weggehen der Angeklagten die vorherige Beihilfe aufgehoben oder wirkte psychische Bestätigung fort? Davon hinge dann ggf. auch die (weitere) zivilrechtliche Haftung ab. Man müsse sich hierfür im Prinzip fragen, ob die anderen Teilnehmer das Weggehen als Missbilligung verstanden hätten. Wenn ein Zielpunkt vereinbart worden sei (z. B. IKEA), dann wäre ein „vorzeitiges“ Verlassen ggf. als Missbilligung zu verstehen. Für die Vereinbarung eines fixen Zielpunkts gebe es aber keine Anhaltspunkte. Klar wäre die Sache bei entsprechenden Willensbekundungen („Hört auf damit!“ oder „Macht weiter!“), aber dafür gebe es auch nichts. Vorliegend seien Anhaltspunkte für eine Fortwirkung ggf., dass das Verlassen für sich neutral sei und (auch) als weitere Billigung und Solidarisierung verstanden werden könne, dass die Unrechtsdimension später ähnlich sei wie vor dem Verlassen, dass ohne Zielpunkt das Verlassen keinerlei Aussagewert habe. Gegen eine Fortwirkung spreche, dass das objektive Momentum mit Weggehen entfalle (keine Vermittlung von Sicherheit mehr pp.), dass das Weggehen in dubio pro reo als Missbilligung verstanden wurde von den anderen Teilnehmern und letztlich auch keine anderweitigen Unfriedlichkeiten der (deutschen) Angeklagten an anderen G20-Tagen feststellbar seien. Das sei ein offener Meinungsbildungsprozess, der auch in der Kammer noch nicht abgeschlossen sei.
- Falls ein Fortwirken angenommen würde: Mussten die Angeklagten damit rechnen, dass nach ihrem Weggehen die Polizei angegriffen würde, wenn vorher keine da war? Dafür spreche aus Sicht der Kammer, dass die Unrechtsdimension nicht anders sei als vorher auch und im Übrigen sich diese Beamten gerade nicht dem Zug entgegengestellt hätten, sondern ohnehin da gewesen seien.
- Dann müsse man aber schließlich die Frage beantworten, ob der eigentliche Straftäter, der mit dem Hammer auf das Auto der Bundespolizei eingeschlagen habe, überhaupt
Körperverletzungsvorsatz gehabt habe. Denn der Bundespolizist selbst habe immerhin angegeben, dass er ggf. in dem Fahrzeug gar nicht gesehen worden sei. - Zentrale Frage sei für die Kammer ohnehin, ab wann welcher Angeklagte was mitbekommen habe (Kenntniselement). Es gehe insofern um visuelle und akustische Wahrnehmbarkeit /Wahrnehmung, wobei die Videos zur Akustik nicht hilfreich seien, weil ggf. verzerrt, und hier auch ein Sachverständiger nicht weiterhelfen könne, der habe schließlich auch nur die Videos als Beurteilungsgrundlage. Derzeit gehe die Kammer davon aus, dass spätestens ab der Rainvilleterrasse für die Angeklagten (visuell) auch die Brandlegung an Fahrzeugen erkennbar gewesen sei, so dass hinsichtlich der weiteren Brandlegungen an PKW im Zeitraum der Anwesenheit der Angeklagten auch Vorsatz in Form der billigenden Inkaufnahme bestehe.
Abschließend teilte die Kammer mit, bald am Ende der gerichtlichen Beweisaufnahme sein zu wollen. Es gebe noch einzelne Beweiserhebungen – zu Loic –, dann sei das gerichtliche Programm aber erschöpft.