Wenn es auch von den Verantwortlichen abgestritten und kaum medial thematisiert wird, kam es beim G20-Gipfel in Hamburg zu massiven Polizeiübergriffen auf Demonstrierende, Aktivist*innen, aber auch Umstehende. Viele Menschen waren unterschiedlichsten Formen von Gewalt, Übergriffen und Schikanen durch die Polizei ausgesetzt oder haben diese miterlebt. Nach etwas Abstand stellt sich jetzt vielleicht für die Eine oder den Anderen die Frage eines Umgangs damit. Das große Bedürfnis, dass die Täter_innen nicht einfach davon kommen, sondern zur Rechenschaft gezogen werden sollen und dass sichtbar werden soll, was nicht nur Einzelnen passiert ist, ist überaus nachvollziehbar.
Trotzdem raten wir dringend davon ab, eine Strafanzeige gegen gewalttätige Polizeikräfte zu stellen! Die Gründe und Risiken wollen wir euch nachfolgend aufzeigen.
Erfahrungsgemäß reagiert die Polizei auf eine solche Anzeige sehr wahrscheinlich mit einer Gegenanzeige, z.B. wegen vermeintlichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt_innen oder aber anderer leicht durch andere Polizist_innen „bezeugbarer“ Vorwürfe. Die offizielle Logik dahinter ist, dass einer Gewaltanwendung seitens der Polizeikräfte ein Rechtsbruch vorangegangen sein muss, gegen den die Polizei einzugreifen gezwungen war. So wird der Einsatz von Gewalt nachträglich legitimiert.
In der Realität sind Anzeigen und Klagen gegen die Polizei fast nie erfolgreich. Fast immer werden sie schon im Stadium der Vorermittlung eingestellt. In Deutschland gibt es kein unabhängiges Gremium zur Bearbeitung dieser Anzeigen, die Ermittlungen gegen Polizeikräfte werden von ihren Kolleg_innen selbst geführt.
Darüber hinaus solltet ihr bedenken, dass zu einer Anzeige auch eine Aussage gehört, die ebenfalls sehr risikobehaftet ist. Ihr liefert mit einer Aussage nicht nur Informationen über die Gewalttat gegen euch, sondern auch Informationen über euch selbst, etwa euren Namen, Wohnort, bei welchen Aktionen ihr vor Ort wart, und eventuell auch noch über andere, die ihr erwähnt oder nach denen gezielt gefragt wird. In der Regel verlangt die Polizei sogar Zeug_innen für die Körperverletzung im Amt oder was ihr sonst so anzeigt. Wer dann unbedarft und an den Rechtsstaat glaubend Namen von Menschen angibt, serviert dem Staatsschutz auf diesem Weg noch mehr Namen, Adressen etc. auf einem Silbertablett. Es besteht ferner die Gefahr, dass diese Zeug_innen dann auch noch angezeigt werden, weil sie ebenfalls vor Ort waren oder nach Erscheinen bei der Vorladung auf den zahlreich vorhandenenen Fotos und Videomaterial wiedererkannt werden.
Wir möchten hier auch darauf hinweisen, dass dies in ähnlicher Form für Presseinterviews gilt. Das Bedürfnis, in der Öffentlichkeit gegen die Hetze und Lügen Position zu beziehen, ist sehr verständlich. Indem ihr euch aber mit kritischen Positionen oder überhaupt in die Öffentlichkeit stellt, könnt ihr ins Visier polizeilicher Ermittlungen geraten. Unüberlegte Äußerungen, euer Klarname in Verbindung mit einem Gesicht, Aussagen zu bestimmten Ereignissen oder der Beleg, dass ihr zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort wart, können gegen euch verwendet werden.
Um an O-Töne aus der „Szene“ zu kommen, geben sich Journalist_innen der Mainstream-Medien oft betont verständnisvoll, in der Hoffnung dadurch besonders reißerische Aussagen von euch zu bekommen. Daher gilt auch hier: Überlegt euch vorher sehr genau, ob und was ihr wem in welchem Format sagen wollt, besprecht das in euren politischen Strukturen und im Zweifel mit Rechtshilfestrukturen vor Ort.
Wir wollen euch nicht entmutigen oder ein eventuelles Gefühl von Ohnmacht verstärken, wir wollen unsere langjährigen Erfahrungen mit euch teilen und euch die Risiken verdeutlichen. Das bedeutet nicht, dass ihr mit euren Erlebnissen alleine bleiben sollt. Besprecht euch in euren politischen Bezügen, z.B. über anonyme Veröffentlichungen oder ähnliches.
Wenn ihr dennoch auf das Mittel der Strafanzeige zurückgreifen wollt, weil ihr beispielsweise von stichhaltigen Beweismitteln ausgeht oder in sehr krassem Ausmaß von Polizeigewalt betroffen seid, empfehlen wir euch dringend, euch an die Rechtshilfestrukturen vor Ort zu wenden, zum Beispiel die Rote Hilfe, der Ermittlungsausschuss oder Out of Action. Sie können gemeinsam mit euch und mit Anwält_innen die verschiedenen Möglichkeiten und Chancen ausloten.
Wenn wir gemeinsam überlegen, was wir tun können (und was nicht), sind wir stärker und euer Handeln ist kollektiv getragen. Gemeinsam können wir solidarische und erfolgreiche Formen des Umgangs finden und anwenden!
Rote Hilfe e.V.
OG Hamburg