Prozesserklärung vom 1. Verhandlungstag gegen eine Stuttgarter NoG20-Aktivistin

Prozesserklärung vom 4.4.2019:

Ich bin heute hier angeklagt, weil ich mich an den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg beteiligt habe. Zum Hintergrund des Prozesses möchte ich nun ein paar Worte verlieren:

Ja, ich war eine der zigtausenden, die vielfältig gegen den G20 Gipfel protestiert haben – und ich werde auch wieder auf die Straße gehen wenn die Vertreter der mächtigsten 20 Staaten der Welt sich treffen, um sich darüber auszutauschen, wie sie ihre Wirtschafts- und Machtpolitik weiter ausbauen können. Als Gastgeberin setzte sich Angela Merkel mit den Trumps, Erdogans und saudischen Scheichs an einen Tisch, um in engem Kreis auszuhandeln wie sie ihre Interessen nach noch mehr Einflusssphären, nach der Bewahrung und Absicherung der herrschenden Wirtschaftsverhältnisse am besten umsetzen können.

Diese Gelegenheit nutzten viele tausend Menschen um ihrem Widerstand gegen das weltweit vorherrschende kapitalistische System Ausdruck zu verleihen. Denn genau dieses System ist die Grundlage einer Politik, die für massenhafte Armut, Kriege, Flucht, Frauenunterdrückung und alltägliche Ausbeutung auf dem gesamten Erdball verantwortlich ist. Die G20 sind ihre schillernden Repräsentanten und Profiteure. Sie stehen für ein System, das Milliarden von Menschen tagtäglich enteignet, entrechtet, entmündigt – und das nicht etwa, weil es keine andere Möglichkeit gäbe, die Gesellschaft einzurichten. Nein, Grund ist vielmehr, dass die Vorherrschaft einer kleinen Klasse von Besitzenden auch heute noch wichtiger ist, als eine vernünftig geplante, nach kollektiven Prinzipien aufgebaute Wirtschaft und Gesellschaft. Das wird uns nicht nur immer und immer wieder eingeredet, es wird in passenden Momenten eben auch mit aller Gewalt verdeutlicht:

Bei den großen Protesten in Hamburg schafften es Demonstrantinnen und Demonstranten immer wieder die Übermacht der über 30.000 Polizisten kurzzeitig zu durchbrechen und selbstbestimmte Proteste auf die Straße zu tragen.
Die Polizei antwortete vor Ort aber mit brutaler Gewalt bis hin zur Schusswaffengebrauch, mit Massenfestnahmen mit anschließenden Inhaftierungen unter schikanösen Bedingungen und mit fadenscheinigen Begründungen.

Als Folge werden nun neue Überwachungs- und Polizeigesetze verabschiedet. Die Polizei und Bundeswehr werden noch weiter hochgerüstet und das Training der Aufstandsbekämpfung wird mit neuen Impulsen aus der Praxis gefüllt und effektiviert – schließlich kann selbst die deutsche Polizei nicht alle Tage ein linksalternativ geprägtes Stadtviertel mit schwerbewaffneten Einheiten besetzen und das öffentliche Leben mal eben unter ihre Kontrolle bringen.

Die Frage ob der Polizeieinsatz bei der sogenannten „Welcome to Hell“ Auftakt-Demo, wegen dem ich heute vor Gericht stehe, rechtmäßig war bleib offen. Es gibt viele Indizien dafür, dass es von der Einsatzleitung nie wirklich gewollt war, dass die Demo ihre Route überhaupt laufen kann. Warum z.B. einen ganzen Tross an Wasserwerfern in Angriffsposition vor die Spitze einer Demo stellen? Weil die Fahrer so gerne kilometerlang Rückwärts fahren? Die massiven Prügelattacken der Polizei auf der Höhe des Fischmarkt haben eine Massenpanik ausgelöst und Menschen dazu genötigt, von einer über 3 Meter hohen Flutschutzmauer herunter zu springen – viel mehr muss zu diesem Einsatz nicht gesagt werden, um seinen Charakter herauszustellen. Vor diesem brutalen Spektakel, soll ich heute als „politische Gewalttäterin“ verurteilt werden.

Wenn Menschen wie ich wegen der Anwendung „politischer Gewalt“ vor Gericht gestellt und zu Verbrecherinnen und Verbrechern gemacht werden, dann ist das nicht nur lächerlich – in Anbetracht des Ausmaßes der uns vorgeworfenen Handlungen – es ist vor allem eine offenkundige Heuchelei! Die politische Gewalt, die tatsächlich Gesellschaften, Länder und ganze Regionen bedroht und zerstört, wird von keinem ihrer Gerichte angeklagt und die Schuldigen werden niemals auf einer solchen Anklagebank sitzen: Die zigtausenden Toten an den EU-Außengrenzen wurden aus politischen Gründen ermordet, Menschen im Jemen, in Kurdistan in Afghanistan oder in Mexiko werden von legal in Deutschland produzierten Waffen getötet – Das alles sind Morde, die politisch geduldet und gefördert werden, solange niemand zu laut darüber redet. „Politische Gewalt“, das ist ein allgegenwärtiger Zustand, den jede und jeder zu spüren bekommt, die oder der auch nur einmal den politischen Interessen der Herrschenden zu Nahe gekommen ist, oder das absolute Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt hat: Ob bei selbstbestimmten Protesten gegen rechte Brandstifter, bei den Versuchen Umweltzerstörung für Konzerninteressen zu verhindern, oder eben bei den Kaffekränzchen der großen Politprominenz, die sich ihre PR-Shows von zehntausenden, durch Steuergelder bezahlte, Gewalttäter schützen lässt.

Wie richtig mit dieser systematischen politischen Gewalt umzugehen ist, wird sicher nicht hier vor Gericht entschieden. Fakt ist nur, dass nicht ich, sondern andere sich dafür zu verantworten haben.