Zwischenbericht zum Elbchaussee-Prozess // Die Anklage wackelt

Seit mittlerweile 19 Verhandlungstagen läuft der erste Prozess gegen
mutmaßliche Teilnehmer an den Protesten gegen den G20-Gipfel auf der
Elbchaussee. In dem Prozess versucht die Staatsanwaltschaft, eine neue
Rechtsprechung auf Demonstrationen anzuwenden, die die
Versammlungsfreiheit einzuschränken droht, sollte sich die
Rechtsauffassung auch in höheren Instanzen durchsetzen. Trotz der
möglicherweise weitreichenden Folgen dieses Urteils wird die
Beweisaufnahme unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Das
Gericht begründete den Geheimprozess u. a. mit Beifall und lautstarken
Jubelstürmen aus dem vollbesetzten Zuschauer*innenraum für die
Angeklagten an den ersten beiden Prozesstagen. Doch auch die Anklage
hatte bei ihrer dürftigen Beweislage allen Grund, kritische
Prozessbeobachter*innen auszuschließen, wie der bisherige Prozessverlauf
zeigt.

Anklage: G20-Protest als unpolitischer Hooliganismus

Die Anklage will nachweisen, dass sich die fünf Angeklagten allein durch
die Teilnahme an der Demonstration, aus der heraus zahlreiche Autos und
Geschäfte angegriffen wurden, des schweren Landfriedensbruchs strafbar
gemacht haben. Vier der fünf Angeklagten wird keine eigenhändige
Straftat vorgeworfen. Mit ihrer Anklage stützt sich die
Staatsanwaltschaft auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Mai
2017, das sich jedoch explizit auf Auseinandersetzungen zwischen
Fußball-Hooligans bezog. Das Gericht wertete das „ostentative
Mitmarschieren“, also ein bewusst herausforderndes Mitlaufen in einer
Gruppe, als psychische Beihilfe für die gewalttätigen Hooligans. Der BGH
schloss in seinem Urteil eine Anwendung auf Demonstrationen allerdings
ausdrücklich aus.

In der Beweisaufnahme will und muss die Staatsanwaltschaft Hamburg den
Angeklagten nachweisen, dass die Schäden an der Elbchaussee mit dem
Wissen und Wollen aller Teilnehmenden der Demonstration verursacht
wurden. Die Staatsanwaltschaft geht von einer gemeinsamen Planung und
Organisation aus. Die Teilnehmenden hätten sich vorab im Donners Park
getroffen, gemeinsam in schwarze Kleidung umgezogen und seien dann
losmarschiert. In der Anklage stützt sich die Staatsanwaltschaft dabei
auf vermeintliche Zeug*innenaussagen wie diese: „Etwa eine halbe Stunde
später ging das Drama los. Plötzlich waren sie alle schwarz gekleidet
und formierten sich zu einem schwarzen Block“. Allein bestritten mehrere
Zeug*innen in der Hauptverhandlung, dies gegenüber der Polizei so gesagt
zu haben. Das hätten sie gar nicht gekonnt, da sie es nur im
Vorbeilaufen wahrgenommen haben, gar keine Sicht darauf hatten oder
ähnliches. Wie die Polizei auf solche Aussagen kam? Sie müsse sie falsch
verstanden haben. Diese und ähnliche Vorfälle gab es mehrmals im
Prozessverlauf. Die mehrmonatige Arbeit der SOKO Schwarzer Block scheint
wohl auch darin bestanden zu haben, sich Aussagen auszudenken, die zu
ihrer Sicht des Geschehens passten.

Auch die Aussagen der geladenen Mitglieder der SOKO blieben so
unergiebig, ungenau und an der Sache vorbei, dass selbst die Kammer
vorerst auf die Ladung weiterer Beamter verzichten will. Der „Fallführer
Elbchaussee“ konnte auch unter Vorhaltung ihrer Aussagen nicht erklären,
wie Innensenator Grote, Polizeipräsident Meyer, der G20-Einsatzleiter
Dudde oder SOKO-Leiter Hieber auf ihre Aussagen im Sonderausschuss des
Senats kamen. Die SOKO versuchte alle Teilnehmenden der Demonstration an
der Elbchaussee zu ermitteln. Die Staatsanwaltschaft machte die
Ermittlungsvorgabe, dass der Aufzug von Anfang an gewalttätig gewesen
wäre. Durch den unfriedlichen Verlauf hätte es sich demnach nie um eine
Versammlung gehandelt. Bis heute wurde jedoch nicht ermittelt, wann und
wo sich der Zug denn gebildet hat.

Die Anklage beruft sich weitgehend auf Ermittlungshypothesen, die sich auf
„Analyse und Lageeinschätzung“ stützen. Die SOKO interpretierte also
Videos, Luftbilder und anderes Bildmaterial und versuchte Rückschlüsse
zu ziehen. Belastbare Beweise, mit denen beispielsweise eine gemeinsame
Planung belegt werden könnte, bietet die an Tatsachen arme Anklage kaum. So
ließ sich das Konstrukt des Verfassungsschutzes nicht bestätigen, dass
die italienische ‚Autonomia Diffusa‘ für die Straftaten
verantwortlich wäre, obwohl es von der SOKO lange als Arbeitshypothese
verfolgt wurde. Ein Staatsschutzbeamter, der die SOKO beriet, bekundete
trotzdem, dass diese Taten eher zu aus dem Ausland angereistem Klientel
passen würden. Straftaten von deutschen Autonomen wären eher
„institutionalisiert“ und sie seien darauf bedacht, dass Gewalt
„vermittelbar“ sei. Diese Erkenntnis hätte er seiner Lektüre von u. a.
‚Autonome in Bewegung‘ oder ‚Der kommende Aufstand‘ zu verdanken.
Trotz des großen Verfolgungswillens und politischem Druck, den die
Staatsanwaltschaft durch einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht und
zahlreiche Beschwerden beim Oberlandesgericht zeigte, erhärtete die
Verhandlung die Anklage bislang nicht. Dies und eigene Einlassungen
bewirkten, dass zwischenzeitlich zwei weitere Angeklagte die U-Haft
verlassen durften. Die Haftbefehle gegen die vier teils minderjährigen
Angeklagten aus dem Rhein-Main-Gebiet wurden aufgehoben. Die
Staatsanwaltschaft zog ihren angekündigten Widerspruch dagegen
mittlerweile zurück. In ihren Einlassungen gaben vier Angeklagte an, an
der Demonstration auf der Elbchaussee teilgenommen, sie aber vorzeitig
verlassen zu haben. Das Konstrukt der Anklage eines homogenen
gewalttätigen Blocks bekam dadurch zusätzliche Risse. Zudem gaben die
Angeklagten an, dass sie mit dem Verlauf nicht gerechnet und ihn so
nicht gewollt hätten.

Das Verfahren wird mindestens bis zum 20. September fortgesetzt. Trotz
der Verlängerung des Prozesses muss damit gerechnet werden, dass bis zum
Abschluss des Verfahrens noch weitere Termine nötig sind.
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