Bericht zur G20-Fahndung in der Schweiz

Neun Monate nach dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 schlug die Polizei gleichzeitig an drei verschiedenen Orten in der Schweiz zu: Am 29. Mai 2018, um 6 Uhr morgens, wurde eine zur Fahndung ausgeschriebene Person in der Nähe von Winterthur verhaftet und vorübergehend festgenommen. An zwei weiteren Orten gab es zeitgleich Razzien, wobei diverse Speichermedien, Telefone und andere Gegenstände beschlagnahmt wurden. Doch wie ist diese ganze Operation namens «Alster» eigentlich abgelaufen?

Wir hatten Einblick in einen Teil der Akten von der Kantonspolizei Aargau und uns entschieden Informationen daraus zu veröffentlichen – um das Ausmass der polizeilichen Überwachung aufzuzeigen, um Informationen zu teilen, wie seitens der Repressionsbehörden in solchen Fällen gearbeitet wird, und um zukünftigen Observationen etwas entgegen zu halten. Doch wie schon erwähnt – wir gehen davon aus, dass wir lediglich einen Bruchteil der Akten sichten konnten.

Die Operation Alster

Im Dezember 2017 veröffentlichten die Hamburger Ermittlungsbehörden Fahndungsfotos von Personen, denen sie vorwerfen sich an den Protesten gegen den G20-Gipfel beteiligt zu haben – und baten diverse europäische Staaten um Mithilfe bei der Identifizierung der gesuchten Personen.

Die Kantonspolizei Aargau reagierte im Januar 2018 auf diese Anfrage, man habe scheinbar einen Treffer bezüglich der Fahndung. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft Hamburg am 16. März 2018 ein Rechtshilfegesuch. Sie bat darin das Schweizer Bundesamt für Justiz um Unterstützung beim sogenannten «Tatkomplex Elbchaussee». Das Rechtshilfegesuch stützt sich auf Gesetzesartikel zum Tatvorwurf – schwerer Landfriedensbruch in Tateinheit mit Brandstiftung.

Im Rechtshilfegesuch forderte die Hamburger Staatsanwaltschaft folgende Überwachungsmassnahmen an:

  • TKÜ-Beschluss: Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation, Telefonnummer inklusive Internetanschluss
  • Auswertung der Verkehrsdaten des Handys über den Zeitraum der letzten sechs Monate
  • IMSI-Catcher für die Ermittlung der Mobilfunknummern, der Sim-Karte, sowie den Standort des Handys
  • Observation der beschuldigten Person, wobei explizit um die Erlaubnis gebeten wurde, dabei GPS-Sender benutzen zu dürfen. Die Observationserkenntnisse sollten zudem mit Lichtbildern (Fotos), Personen- und Fahrzeugdaten dokumentiert werden.
  • Hausdurchsuchung. Darunter: Wohnräume, Neben- und Betriebsräume und Auto
  • Nach den erfolgten Massnahmen soll die beschuldigte Person zum Tatvorwurf befragt werden. Ein «geeigneter Fragekatalog kann zur gegebenen Zeit übersandt werden», schreibt die Staatsanwaltschaft Hamburg.

Die Überwachung wurde für ein bisschen mehr als zwei Monate angelegt. Ausser die Auswertung der Mobilfunkdaten, die nach Schweizer Gesetz ohnehin sechs Monate rückwirkend gespeichert werden.

Der bürokratische Salat

Fünf Tage später, am 21. März, prüfte die Staatsanwaltschaft (StaWa) Aargau das Gesuch und erachtet es als zulässig. Die Argumentation: Aufgrund der «besonders schweren» Vorwürfe und weil Brandstiftung auch in der Schweiz strafbar sei, würden die Überwachungsmassnahmen angeordnet und durchgeführt. Somit musste das Rechtshilfegesuch nur noch vom Aargauer Zwangsmassnahmengericht (ZMG) bewilligt werden.

Doch das ZMG lehnte am 10. April 2018 das Gesuch in erster Instanz ab. «Der dringende Tatverdacht hat sich bis an hin weder bestätigt noch erhärtet», schreibt das ZMG. Die Aargauer Staatsanwaltschaft müsse genauer begründen, warum die angeforderten Überwachungsmassnahmen nötig seien. In Bezug auf die rückwirkenden Handydaten schreibt das ZMG etwa, dass die Vorratsdatenspeicherung ja lediglich sechs Monate dauere und eine Auswertung somit erst drei Monate nach der «tatrelevanten Zeit» beginnen würde. Den vorgeworfenen Tatzeitpunkt habe man also ohnehin verpasst.

Die Staatsanwaltschaft antwortet noch am selben Tag mit dem gleichen Gesuch – mit dem Hinweis, dass die Ermittlungen anderer Länder nicht in Frage gestellt werden sollten. Neun Tage nachdem das erste Gesuch abgelehnt worden war, segnete das Zwangsmassnahmengericht die gewünschten Massnahmen dann auch ab.

Damit begannen die Ermittlungen der Operation «Alster». Jedoch erst stockend: Die Auswertung der Mobilfunkdaten – sechs Monate rückwirkend – gab keine Aufschlüsse bezüglich dem Tatvorwurf, der sich Anfang Juli 2017 ereignet haben soll. Auch die Handynummer, die auf die beschuldigte Person registriert ist, gab wenig Aufschluss, da sie wohl schon seit Längerem nicht mehr in Betrieb war. Trotzdem werden sämtlich Anrufversuche polizeilich ausgewertet.

Um die aktuelle Handynummer der beschuldigen Person ausfindig zu machen, ermittelte die Kripo Aargau daraufhin anhand der Fahrzeugversicherung der beschuldigten Person weiter. Die Versicherungsgesellschaft (Die Mobiliar) händigte der Polizei umgehend die Telefonnummer aus, die beim Abschluss der Versicherung angegeben worden ist – und weist zusätzlich noch explizit auf eine Panne des Fahrzeuges hin. Der Pannendienst bestätigte schliesslich dieselbe Nummer wie diejenige, die die Versicherung angegeben hatte. Diese Nummer ist auf eine vermeidlich nicht existierende Person an einer nicht existierenden Adresse registriert.

Echtzeitüberwachung der beschuldigten Person

Die Spezialfahndungseinheit der KriPo Aargau ordnete Mitte Mai – also rund zwei Wochen vor den europaweiten Razzien – eine Observation der beschuldigten Person sowie eine Mobiltelefonüberwachung in Echtzeit bei der StaWa Aargau an.

Aus den Akten ist ersichtlich, dass an mindestens zwei Tagen eine personelle Observation erfolgte, wobei unter anderem die Handynummer mittels IMSI-Catcher bestätigt wurde. Dabei wurde die Person während einer längeren Reise mit dem öffentlichen Verkehr über mehrere Stunden hinweg beschattet und fotografiert. Zudem wurden alle Personen, die in aktivem Kontakt mit der Person standen, namentlich dokumentiert. Nachdem die Mobiltelefonnummer auf diesem Weg abermals verifiziert worden war, fanden die Observationen nur noch punktuell statt.

Die Handydaten der ermittelten Nummer wurden ebenfalls rückwirkend auf sechs Monate ausgewertet. Bei der Echtzeitüberwachung wurden sämtliche Telefongespräche sowie SMS Wort für Wort aufgezeichnet. «Hey check mal deine Mail», dieser Inhalt eines Anruf, den die beschuldigte Person am 23. Mai erhielt, löste bei der StaWa Aargau eine dringende Anfrage bei «Microsoft» aus. Der E-Mail-Anbieter soll sofort die Registrierungs- und Verbindungsdaten vom 1.April 2018 bis 23.Mai 2018 herausgeben. Mit der Anmerkung: «Bitte stellen Sie sicher, dass der Account-Inhaber nicht über diese Massnahme in Kenntniss gesetzt wird.»

Reizpunkte setzen

Mehr als neun Monate nach dem vermeintlichen Tatzeitpunkt forderte also die StaWa Hamburg die Kommunikationsdaten vom Mobilfunktelefon an – rückwirkend auf sechs Monate. Doch was wollten sie daraus ermitteln? Der Fokus der Ermittlungen lag dabei wohl auf den von der StaWa Hamburg gesetzten Reizpunkte. Ein erster solcher Reizpunkt war der G20-Onlinepranger im Dezember 2017. Menschen, die an diesem Tag die Nummer der beschuldigte Person angerufen hatten, wurden markiert und in einem weiteren Schritt überprüft. Bei registrierten Anrufer*innen wurden alle bestehenden Daten vom Strafregisterauszug, den Datenbanken «Polaris», «Janus»und «KIS», sowie Facebook und Google gesammelt. Was damit weiter geschah, ist den Akten nicht zu entnehmen.

Ein zweiter Reizpunkt wurde Mitte Mai – rund zwei Wochen vor den Hausdurchsuchungen – gesetzt, als die Observation bereits in vollem Gange war. Als Reizpunkt galt diesmal die Entfernung eines Fahndungsfotos auf dem G20-Onlinepranger, um zu sehen, wie die observierte Person darauf reagiert, mit wem sie Kontakt aufnimmt oder ob andere Auffälligkeiten registriert werden können. Auch hier geht aus den Akten nichts weiter hervor.

Europaweiter Zugriff

Am 29. Mai erfolgte daraufhin in mehreren Ländern gleichzeitig ein Zugriff auf mehrere beschuldigte Personen im «Tatkomplex Elbchaussee». In der Schweiz wurde das Zuhause der beschuldigten Person von der Aargauer Spezialeinheit «Argus» gestürmt. Alle anwesenden Personen wurden aus dem Bett geholt, mit Waffen bedroht und über mehrere Stunden in Handschellen und mit Augenbinden festgehalten. Auch das Kulturzentrum KuZeB in Bremgarten wurde gerazzt, Türen wurden aufgebrochen und Sachen beschlagnahmt. Alleine im Aargau waren an die 120 Bullen an den Razzien beteiligt – inklusive einer mobiler Einsatzzentrale vor Ort.

Der Fokus der Hausdurchsuchung:

  •  Tatkleidung des Beschuldigten (zum Abgleich mit Videoaufnahmen vom Tatgeschehen)
  • Mobiltelefone
  • Tablet
  • Computer und weitere Speichermedien, auf denen allfällige Videoaufzeichnungen, Fotos vom Tatgeschehen gespeichert sein könnten, die zur Ermittlung von Mittäter*innen, Tatbeteiligten, Hinterleuten führen könnten
  • Schriftstücke
  • Zufallsfunde

Die gesuchte Person wurde jedoch weder im Kulturzentrum noch am Wohnort aufgegriffen, da sie sich zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort im Kanton Zürich aufhielt. Es ist aber davon auszugehen, dass dies den Ermittlungsbehörden bereits im Vorfeld bekannt war, denn der Zugriff am Aufenthaltsort in der Nähe von Winterthur fand exakt zeitgleich wie die Razzien an den beiden anderen Orten statt.

Zuständig war dort die KaPo Zürich. Zahlreiche Bullen, alle in zivil, umstellten die Liegenschaft. Anwesende Personen wurden aus dem Bett gerissen und mussten ihren Personalausweis vorweisen. Hierbei landen sie drei weitere Zufallstreffer und verhaften zwei in der Schweiz zur Fahndung ausgeschriebene Personen und eine sich in der Schweiz illegal befindende Person.

Die bei der Aktion Alster gesuchte Person wurde jedoch nicht im Haus aufgegriffen, sondern kurz darauf aus einem in der Nähe geparkten Fahrzeug verhaftet. Da sich auch noch ein Hund im Fahrzeug befand, musste zuerst ein von Kopf bis Fuss dick gepolsterter Spezialbulle zum Einsatz kommen. Die vier verhafteten Personen wurden in zivilen Bullenautos abtransportiert und die von der StaWa Hamburg gesuchte Person wurde an der Kantonsgrenze der KaPo Aargau übergeben.

Die beschuldigte Person wurde zuerst zum Wohnort gebracht, wo unter anderem bereits zwei Bullen von der Hamburger Sonderkommission «Schwarzer Block» warteten. Der Person wurden die dort beschlagnahmten Gegenstände vorgezeigt. Anschliessend wurde sie auf dem Polizeiposten von einer Aargauer Staatsanwältin befragt – in Vertretung für die Hamburger Staatsanwaltschaft und gemäss dem von Hamburg erstellten Fragebogen.

Bereits nach der zweiten Frage wurde die Befragung jedoch abgebrochen, da die beschuldigte Person jegliche Aussage verweigerte. Da in der Schweiz kein Strafverfahren gegen die Person läuft und die Behörden keine Schweizer Staatsbürger*innen ausliefert, wurde die beschuldigte Person trotz deutschem Haftbefehl wieder laufen gelassen.

Es ist davon auszugehen, dass vermutlich nach wie vor ein europaweiter, wenn nicht internationaler Haftbefehl besteht – wir wünschen der beschuldigten Person ganz viel Kraft und Solidarität!

Quelle: https://barrikade.info/article/2491

Artikel zu den Razzien Ende Mai 2018: